Heumaden International
Große Emotionen bei der Fussball-Weltmeisterschaft 2014 – aber trotzdem gute Nachbarschaft im Stadtteil!
Menschen aus weit entfernten Ländern und verschiedenen Kulturen in Heumaden:
- die deutschen Heimatvertriebenen
- die Sizilianer in Calw
- die Kroaten
- die serbisch-orthodoxe Gemeinde in Heumaden
- die Portugiesen: wo sind sie wirklich zu Hause?
- die Mitbürger aus islamischen Ländern
die türkischen Gastarbeiter und ihre Urenkel
die Bosniaken als Vorhut eines modernen Europas?
die Ahmadiyya - Gottes Wille für das Heute!
die Aleviten - ein anderer Islam?
- die deutschen Spätaussiedler
- vom Nebeneinander zum Miteinander
eine vorläufige Bilanz
das Fest der Kulturen
Die deutschen Heimatvertriebenen:
Als im Jahr 1960 zwischen Bundesstraße 295 und Staelinstraße bzw. Demmlerweg und Wagnerstraße die Erschließung Heumadens begann, da zogen in diesem ersten Bauabschnitt neben Angehörigen der Bundeswehr vor allem Heimatvertriebene aus dem Osten auf. Sie waren in den letzten Kriegstagen aus Ostpreußen, dem Oderbruch oder Schlesien geflüchtet. Andere waren schon während des Krieges aus der Ukraine nach Polen umgesiedelt worden und mussten im Zuge der entstehenden Nachkriegsordnung ein zweites Mal Haus und Hof verlassen. Ähnlich ging es den Donauschwaben, die aus dem Banat und der Batschka ausgewiesen wurden, sowie den Sudetendeutschen. Auf Pferdewagen und zu Fuß, auf offenen LKWs und manchmal auch mit dem letzten Zug waren sie auf ihrem Weg nach Westen kreuz und quer durch das zerstörte Deutschland geirrt. Teilweise waren sie zwischen Militärkolonnen gezogen und von Tieffliegern bedroht worden. Teilweise überholte sie die vordringende sowjetische Armee. Die meisten verbrachten lange Monate in überfüllten Auffanglagern. Manche landeten zunächst in der Sowjetischen Besatzungszone und wechselten unter Lebensgefahr über die anfangs noch nicht befestigte Grenze in den Westen. Andere kamen vor dem Bau der Mauer im Jahr 1961 über Berlin in die Bundesrepublik und schließlich über viele Umwege nach Calw. Sie hatten nicht nur ihren gesamten Besitz, sondern ihre Existenzgrundlage verloren und mussten von ganz unten neu anfangen. Nicht überall wurden sie freundlich aufgenommen.
Die meisten dieser ersten Heumadener leben heute nicht mehr. Wer noch erzählen kann, berichtet unter Umständen von einem Besuch in der alten Heimat – von alten Nachbarn, die sie freudig wiedererkannt haben, aber auch von herben Enttäuschungen: von herunter gekommenen Häusern und überwucherten Gräbern. Und auch das ist zu hören: „ich habe keine Heimat mehr! Ich bin entwurzelt und heute ganz allein!“
Die Sizilianer in Calw:
Schon unter König Karl I. von Württemberg kam im Jahr 1868 eine große Gruppe von Italienern nach Calw. Sie waren Fachleute für Tunnel- und Gleisbau und sollten helfen, das letzte schwierige Stück der Württembergischen Schwarzwaldbahn zwischen Weil der Stadt und Calw fertigzustellen. Nach der Inbetriebnahme der Bahnlinie im Jahr 1872 blieben von den einigen Hundert italienischen Fachkräften nur wenige Einzelne in Calw zurück. Heute erinnert an sie nur noch die Bahnlinie selbst, die im Südwesten und Osten in einem großen Bogen unseren Stadtteil umfährt.
Die vielen italienischen Familien (insgesamt ca. 1000 Personen), die heute in Calw leben, kamen viel später und unter gänzlich anderen Umständen. Als in den Aufbaujahren nach dem 2.Weltkrieg die deutsche Industrie dringend zusätzliche Arbeitskräfte suchte, warb sie u.a. „Gastarbeiter“ aus dem südlichen Italien an. Neben Arbeit Suchenden aus Kalabrien machten sich damals sukzessive Tausende Männer aus Sizilien und speziell aus der kleinen Stadt Mirabella auf den weiten Weg in den Raum Böblingen und besonders auch nach Calw. Hier übernahmen sie in der Deckenfabrik und im Bauhandwerk Arbeitsplätze, die frei wurden, weil die Deutschen in die besser bezahlten Jobs „beim Daimler“ drängten. Als sie ihre Familien nachholten, wurden aus den Gastarbeitern zunehmend Bürger der Stadt Calw, die zwar zum Urlaub in die Heimat fuhren, aber sich hier gleichsam ein „zweites Mirabella“ schufen.
Während die Ersten von ihnen in eher behelfsmäßigen Quartieren der Kernstadt unter-kamen, zog spätestens die „zweite Generation“ nach Möglichkeit in die außenliegenden Stadtteile. In Heumaden leben heute z.B. rund 350 Italiener. Sie erwarben dort Eigentumswohnungen und bauten sich Einfamilienhäuser. Ihre Kinder besuchen die dortigen Kindergärten und auch die Grundschule. Aber schon das soziale Leben der Jugendlichen und dann vor allem der Erwachsenen dreht sich um die in der Kernstadt fest etablierten italienischen Treffpunkte: die kath. muttersprachliche Gemeinde (Comunitá Cattolica Italiana) und den italienischen Kulturverein (Centro Culturale) in der Bahnhofsstraße, den eigenen Fußballclub (AS Tricolore) und den italienischen Laden mit frischem Obst und Gemüse aus der Heimat etc. Schon die „zweite Generation“ der aus Mirabella nach Calw ausgewanderten Italiener ist zum Teil beruflich sehr erfolgreich. Aber trotz aller Integration in die deutsche Gesellschaft suchen sie ihre Identität nach wie vor in den Traditionen Siziliens: Am Karfreitag tragen sie den Gekreuzigten über den Marktplatz zur evangelischen Stadtkirche und wieder zurück nach St. Josef. Zum Madonnafest im September trifft sich dort die im Raum Böblingen verstreute Verwandtschaft. Ihr Lebensmittelpunkt ist inzwischen Calw – aber wenn möglich wollen sie einst in Mirabella beerdigt sein!
Die Kroaten:
Nach den Italienern kamen bald auch Gastarbeiter aus dem damals noch zum Ostblock gehörenden Jugoslawien. Zu den ersten Arbeitsuchenden, die das kommunistische Regime schon Ende der 60ger Jahre legal ausreisen ließ, gehörten vor allem Kroaten aus der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzogowina. In Calw wurden damals dringend Arbeitskräfte gesucht, so dass es nicht schwer war, die für einen Aufenthalt in Deutschland benötigten Arbeitsplatzgarantien zu bekommen. Noch heute bilden die Kroaten die bei weitem größteGruppe der aus dem ehemaligen Jugoslawien zugezogenen Volksgruppen. Sie wohnen inzwischen nicht nur in der Kernstadt, sondern in allen Teilorten von Calw, aber auch in Althengstett. Selbst aus Wildberg und Bad Liebenzell nehmen regelmäßig Teilnehmer am vielfältigen Veranstaltungsangebot der Kroaten in Calw teil.
Als die ersten von ihnen ankamen, wollten sie mit dem hier verdienten Geld vor allem ihre in der Heimat verbliebenen Familien unterstützen. Nicht wenige wollten aber auch staatlichem Druck ausweichen. Ohne Eintritt in die kommunistische Partei blieben ihnen der Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen und Positionen im Staatsdienst (z.B. als Lehrer, Polizisten und Offiziere) versperrt. Als Parteimitglieder konnten sie umgekehrt nur noch heimlich an den Sakramenten und Festen der katholischen Kirche teilnehmen. Hier in Deutschland wurden sie zwar auch vom jugoslawischen Geheimdienst observiert, und deshalb war man mit Rücksicht auf die Familien in der Heimat vorsichtig mit dem, was man sagte. Aber gleichzeitig wurden sie dank einer Vereinbarung mit der Diözese Rottenburg von kroatischen Franziskanern intensiv in muttersprachlichen Gemeinden betreut.
Ferner gründeten sie in Calw einen sehr aktiven Kulturverein, in dessen Rahmen sie ihr heimatliches Erbe, z.B. den muttersprachlichen Unterricht, Gesang und Volkstanz, Fußball und viele andere Freizeitbeschäftigungen, pflegten. Die Stadt Calw erkannte schnell die große Bedeutung der vielfältigen Beiträge ihrer Gastarbeiter zum allgemeinen kulturellen Leben und förderte sie in großzügiger Weise, z.B. durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten.
Umso schmerzlicher erlebten alle Beteiligten die tiefgreifenden Veränderungen, die sich aus dem Zerfall Jugoslawiens und den anschließenden Kriegen (1991 – 1995) ergaben. Serben und Kroaten gründeten in Calw je eigene Kulturvereine, wobei aber nur die bei weitem größere Gruppe der Kroaten ihr Vereinsleben im alten Umfang stabilisieren konnte. Sie nahmen zahlreiche Kriegsflüchtlinge auf und unterstützten ihre vom Krieg stark betroffenen Familien in der Heimat. Im Jahr 2000 feierten sie unter großer Anteilnahme auch der politischen Öffentlichkeit eine kroatische Kulturwoche. Ihr Fußballverein N.K. Zrinksi Calw e.V. spielt bis heute in der Kreisliga Böblingen-Calw. Zu ihren Festen, besonders am Vatertag und dem kroatischen Nationalfeiertag (25.06.), ist die ganze Bevölkerung zum Spanferkel-Essen in das Vereinsheim auf dem Brühl eingeladen.
Trotzdem wird man nicht übersehen, dass sich seit der Ankunft der ersten kroatischen Gastarbeiter vor 50 Jahren sehr vieles verändert hat und wohl auch weiter verändern wird: Kroatien ist inzwischen EU-Mitglied. Wer heute wegen der nach wie vor ernsten wirtschaftlichen Verhältnisse in der vom Krieg gezeichneten Heimat nach Calw kommt, tut das nicht als „Gastarbeiter“ oder Flüchtling, sondern auf Grund der allen EU-Bürgern zustehenden Freizügigkeit. Er trifft gleichzeitig auf Landsleute, die jetzt schon in der dritten Generation hier sind. Diese spricht fließend Deutsch, durchläuft mit Erfolg alle hier angebotenen Bildungs-einrichtungen und ist in den beruflichen und gesellschaftlichen Zusammenhang der Bundes-republik voll integriert. Sie hat keine unmittelbaren Verpflichtungen mehr für in der Heimat lebende Angehörige, denn schon ihre Eltern haben sich in der Regel zum Bleiben in Deutschland eingerichtet. Die kroatische Vergangenheit ist für die Jüngeren inzwischen ein beliebtes Urlaubs-, nicht aber ein Sehnsuchtsziel!
Die Serbisch-Orthodoxe Gemeinde in Heumaden:
Als die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1968 zuletzt auch mit dem damaligen Jugoslawien ein Anwerbeabkommen schloss, kamen u.a. bosnische Serben als „Gastarbeiter“ in unsere Gegend. Die meisten von ihnen stammten aus landwirtschaftlich geprägten Dörfern und brachten kaum Erfahrungen mit industriellen Arbeitsplätzen mit. Als angelernte Arbeiter fanden sie jedoch bald Anstellung in der Deckenfabrik in Calw bzw. bei Bauknecht und Zeyko oder später auch bei Mercedes in Sindelfingen. Da sowohl ihre Arbeitgeber als auch sie selbst davon ausgingen, dass sie nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben würden, hatten sie ihre Familien nicht mitgebracht. Sie lebten anfangs in meist provisorischen Sammelunterkünften und schickten einen großen Teil ihrer eher geringen Entlohnung nach Hause, um dort ihre Familien zu unterstützen bzw. auch Häuser zu bauen, in denen sie nach ihrer Rückkehr wieder wohnen wollten. Mit diesem Ziel vor Augen lernten sie nur das nötigste Deutsch. Sie blieben vor allem unter sich und waren wenig in das Leben des deutschen „Gastlandes“ integriert. Sobald sie eine Rente beziehen konnten, kehrten viele von ihnen darum auch in die Heimat zurück. Denn dort würden sie auch mit einer verhältnismäßig geringen Rente gut leben können.
Ein Teil von ihnen jedoch blieb hier. Sie wurden die Stützen der „Zweiten Generation“! Sie hatten ihre Familien nachgeholt: Ihre Kinder durchliefen deutsche Schulen und erlernten hier gute Berufe. Sie kauften – z.B. auch in Heumaden - Wohnungen und bauten, indem sie sich gegenseitig unterstützten, eigene Häuser. Sie wuchsen von Anfang an zweisprachig auf und wollten in Deutschland bleiben. Aber sie pflegen noch das heimatliche Erbe.
Später, während der Jugoslawienkriege (1991 – 1995), zog die gemeinsame Heimat dann auch andere serbische Flüchtlinge nach Calw. Nachdem ihre Dörfer zerstört und die gewachsenen Nachbarschaften mit den anderen ethnischen Gruppen durch die Kriegshandlungen schwer belastet waren, suchten sie hier einen neuen Anfang. So entstand z.B. in Calw die „Deutsch-Serbische Kulturgemeinde Krajina-Calw“. Neben Folklore und vielfältiger Geselligkeit blühte unter deren Dach eine Zeit lang auch ein erfolgreicher Fußballclub, der Spieler und Unterstützer von weit her anzog.
Die serbische Gemeinschaft, die heute in Heumaden lebt und zu der inzwischen auch ursprünglich aus dem Kosovo stammende Serben gehören, umfasst nur ca. 100 Personen. Sie hat trotzdem eine nicht zu unterschätzende Ausstrahlung. Aus ihrer Mitte heraus entstand nicht nur im Jahr 1991 die „Serbisch-Deutsche Kulturgemeinde“ in Calw. Seit 1992 und besonders seit 2007 feiert in Heumaden auch eine der wenigen orthodoxen Gemeinden im Südwesten einmal monatlich eigene Gottesdienste in der Evangelischen Versöhnungskirche. Die Teilnehmer kamen anfangs von weit her aus den Kreisen Calw, Böblingen, Pforzheim und Freudenstadt. Wieweit die „Dritte Generation“ dieses vielfältige Erbe weiterträgt, bleibt abzuwarten.
Die Portugiesen: wo sind sie wirklich zu Hause?
Die Portugiesen in unserer Gegend stammen überwiegend von der Atlantikküste zwischen Lissabon und Porto. Die meisten von ihnen wohnen heute in Bad Liebenzell. Dort befindet sich das pastorale Zentrum der muttersprachlichen Gemeinde mit Ihrem Pfarrer, Pater José aus Brasilien. Viele haben sich auch in den östlichen Ortsteilen der großen Kreisstadt Calw eingerichtet. Gegenüber der Einfahrt nach Heumaden stößt man z.B. auf das „Centro Escolar Juvenile Portugues“. Es war gegründet worden, um die Kinder der ersten Gastarbeiter inihrer Muttersprache zu unterrichten. Seine Besucher sind inzwischen allerdings überwiegend gestandene Familienväter. Sie haben das ehemalige Offiziersheim der Luftlandebrigade für ihr geselliges Zusammensein erworben und nutzen es besonders an Wochenenden auch als Restaurant. Die etwa 35 Mitglieder des Rancho Cultural de Calw e.V. bilden daneben einen selbstständigen Kulturverein. Sie üben sonntags in der nicht weit entfernten Heumadenschule. Sie pflegen das Liedgut und die Volkstänze ihrer Heimat und wollen diese bei regelmäßigen Auftritten auch der deutschen Bevölkerung vorstellen. Wer nach Portugiesen sucht, stößt ferner auf zahlreiche Gaststätten – z.B. in Bad Liebenzell und Hirsau, in Ottenbronn oder Calw. Oft sind es Fischrestaurants. Vor allem aber Orte, wo Portugiesen sich zwanglos treffen und in ihrer Sprache unter sich sind. Und schließlich gibt es die wachsende Zahl derer, die sich bereits in die deutsche Mehrheit integriert haben, sich aber auf Befragen durchaus als Portugiesen zu erkennen geben. Was ist das Gemeinsame? Was verbindet sie alle - heute 50 Jahre nach ihrer ersten Ankunft in Deutschland?
Als 1964 die ersten portugiesischen Gastarbeiter in unsere Gegend kamen, regierte in ihrer Heimat schon seit 1933 Salazar wie ein Diktator mit harter Hand. Ein großer Teil des Staatshaushalts floss in den Krieg gegen die Aufständischen in den afrikanischen Kolonien Portugals, die unabhängig werden wollten. Die portugiesische Industrie war unterentwickelt, und die große Mehrzahl der Bevölkerung musste sich von einer zurückgebliebenen Landwirschaft ernähren. Viele waren arbeitslos. Portugal galt als das Armenhaus Europas. Wer sich nach Deutschland anwerben ließ, hoffte hier genug zu verdienen, um zu Hause seine Angehörigen zu unterstützen und dann - in nicht allzu ferner Zukunft! - mit genügend Ersparnissen heimkehren zu können, um sich in der Heimat ein besseres Leben aufzubauen. Viele junge Männer wollten auch dem Militärdienst in den Kolonien entgehen. Andere, die ihn hinter sich hatten, suchten in Deutschland endlich ein Leben in Freiheit, ohne überwacht und bespitzelt zu werden.
Erst 1974 stürzte endlich das faschistische Regime Salazars bzw. seines Nachfolgers durch einen Putsch linksgerichteter Offiziere. Auch portugiesische Gastarbeiter in Calw feierten begeistert den großen Umschwung in der Heimat. Die Situation dort stabilisierte sich schritt-weise. 1986 konnte Portugal der EU beitreten und mit deren Hilfe seine Industrie und Infrastruktur wesentlich verbessern. Sehr viele der hiesigen Gastarbeiter kehrten als Folge davon in die Heimat zurück. Sie ließen sich ihre ersparten Sozialversicherungsbeiträge auszahlen und investierten sie in ihr Haus in Portugal. Dank des Ertrags ihrer Gärten und der preiswerten Einkaufsmöglichkeiten auf den regionalen Märkten kommen sie jetzt auch mit ihrer vergleichsweise niedrigen portugiesischen Rente über die Runden.
Im Vergleich zu den osteuropäischen Ländern, die zuletzt in die EU aufgenommen wurden, zeigte sich jedoch, dass Portugals Land- wirtschaft nach wie vor nicht konkurrenzfähig war. Auch das inzwischen verbesserte Bildungssystem konnte die traditionelle Benach-teiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen früherer Generationen nicht so schnell ausgleichen. Besonders im Alentejo, wo das Land in der Hand weniger Großgrundbesitzer war und die verarmte Bevölkerung nur als Lohnarbeiter überlebt hatte, konnten die Kinder oft nicht einmal die vierklassige Schule besuchen, weil sie von klein auf mitarbeiten mussten. In anderen Gebieten fehlte den Eltern schlicht das Schulgeld für sie. Unter den ersten portugiesischen Gastarbeitern waren darum nicht wenige Analphabeten. Bei ihrer Ankunft in Calw verstanden sie in der Regel auch kein Wort Deutsch. Beides trug dazu bei, dass sie außer am Arbeitsplatz meist unter sich blieben und wenige Möglichkeiten hatten, sich beruflich weiter zu qualifizieren. Sie waren geschätzte Mitarbeiter auf dem Bau und z. B. bei Daimler am Band. Aber sie mussten sich über lange Zeit mit den unteren Lohngruppen zufrieden geben.
Jetzt im Alter stehen sie - sofern sie nicht rechtzeitig zurückgekehrt sind - vor einer zwiespältigen Bilanz: Sie haben in Portugal ihre Familien unterstützt, aber trotz häufiger Heimaturlaube ist ihnen das Land ihrer Väter fremd geworden. Sie haben sich allmählich in Deutschlandzurecht gefunden, und auf die Absicherung durch das deutsche Sozialsystem möchten sie nicht verzichten. Doch wenn sie nach Hause kommen, wollen sie nicht als Erstes als die „Deutschen“ begrüßt werden. Denn auch hier verlieren sie mehr und mehr den Anschluss: Sie vermissen die ungezwungenen Begegnungen auf der Straße oder beim Bier, das spontane Miteinander in der Gemeinschaft, wie sie es von Portugal gewohnt waren. Denn die hier aufgewachsene zweite und vor allem die dritte Generation, die gut Deutsch spricht,aber die Heimat nur noch vom Urlaub kennt, orientiert sich zunehmend an der deutschen Umwelt: Den muttersprachlichen Unter- richt gibt es nicht mehr. Der eigene Fußballclub, der einst gegen die anderen portugiesischen Vereine im Südwesten gespielt hat, ist längst aufgelöst. Viele der Jungen kommen nur, wenn die Nationalmannschaft spielt, zum public Viewing ins Centro Juvenile. Die Folklore-Gruppe findet kaum noch genügend Tänzer, um das Hinausfahren der Fischer auf die hohe See und das gespannte Warten ihrer Frauen am Strand darzustellen. Wenn sie einmal im Jahr die Verwandten in der Heimat besuchen, dann kann zum Programm auch ein Besuch in Fatima bei der „Mutter Gottes vom Rosen-kranz“ gehören. Aber zurück in Deutschland machen sich nur wenige auf den Weg zu den muttersprachliche Gottesdiensten in Bad Liebenzell oder Hirsau. Das Bewusstsein der gemeinsamen Herkunft ist durchaus noch lebendig. Es verliert jedoch zunehmend an Bedeutung. Und die Alten bleiben mit ihren Erinnerungen an den oft sehr schweren Anfang in der Fremde mehr und mehr allein!
Mitbürger aus islamischen Ländern:
Ende 2016 zählte die Stadt Calw insgesamt 1643 Bewohner, die aus islamischen Ländern gekommen waren und in den einzelnen Stadtteilen bleibende oder vorübergehende Aufnahme fanden. Sie machen ca. 6.5 % der Gesamtbevölkerung aus. Rund 500 von ihnen sind Flüchtlinge, die sich vor allem im Jahr 2015, aber auch noch 2016 unter Lebensgefahr z.B. aus Syrien gerettet haben und nun darauf warten, als Asylbewerber anerkannt zu werden. Auf sie konzentriert sich – verständlicherweise! - z.Zt. das öffentliche Interesse, d.h. auf die mancherlei Schwierigkeiten, eine so große Zahl von Zugezogenen in kurzer Frist angemessen unterzubringen bzw. sie mittelfristig auch in den hiesigen Arbeitsmarkt zu integrieren. Hinzukommen Ängste der Bevölkerung, dass andernorts in Deutschland durch Flüchtlinge begangene Straftaten und sogar terroristische Anschläge sich in unserer Stadt wiederholen könnten und überhaupt unser Zusammenleben durch das heimisch Werden des Islams überfremdet würde.
Diese Befürchtungen sollte man nicht leichtfertig beiseiteschieben. Gleichzeitig ist es wichtig, das Gesamtbild nicht zu verfälschen, indem nur auf die neueste Gruppe von Zuwanderern geachtet wird. Die in Calw lebenden Moslems gehören zu ganz unterschiedlichen Gruppen: sie sprechen verschiedene Sprachen und sind zu verschiedenen Zeiten und aus jeweils ganz besonderen Umständen hierhergekommen. Ihr kulturelles Erbe und vor allem auch der von ihnen gelebte Islam unterscheiden sich zum Teil erheblich. Nicht wenige sind längst deutsche Staatsbürger und Teil unserer modernen Gesellschaft.
Im Folgenden beispielhaft vier Gruppen.
1. Die türkischen Gastarbeiter und ihre Urenkel
Als in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die ersten türkischen Staatsbürger nach Deutschland kamen, geschah dies auf Betreiben der deutschen Industrie, die dringend zusätzliche Arbeitskräfte suchte. Alle Beteiligten gingen zwar davon aus, dass diese sog. „Gastarbeiter“ nur vorübergehend hier sein würden. Aber schon bald war abzusehen, dass sie auf Dauer gebraucht wurden. Sie holten ihre Familien nach und erarbeiteten sich deutsche Rentenansprüche. Ihre Kinder, Enkel und längst auch Urenkel durchliefen das deutsche Bildungssystem und qualifizierten sich hier für angesehene Berufe. Sie eröffneten eigene Geschäfte und erwarben Immobilien. In Calw verteilen sie sich auf inzwischen 4 Generationen. Die meisten von ihnen wohnen heute in der Kernstadt bzw. in Heumaden, zu einem geringeren Teil auch in Stammheim und Hirsau. Ihre jungen Männer spielen seit 1985 in der Kreisliga Calw in einem eigenen Fußball-Club, in dessen Vereinsheim sie sich generationsübergreifend an den Wochenenden wie in einer großen Familie treffen.
Zum Freitagsgebet und zu den Festen versammeln sie sich in ihrer Moschee in Hirsau, in der türkisch gepredigt wird. Sie finanziert sich aus Spenden der Mitglieder, gehört aber zur Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), einem Dachverband, der 1984 zur Koordinierung der religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der bundesweit mittlerweile über 900 selbständigen Ortsgemeinden gegründet wurde. Als ein in der Bundesrepublik Deutschland tätiges Organ der türkischen Regierung vertritt die DITIB ein Islamverständnis im Sinne des in der Türkei vorherrschenden sunnitischen Islams. Dazu gehört auch die Vermittlung der Hocas, die nicht selten aus ländlichen Gebieten der Türkei stammen und als türkische Staatsbedienstete von den hiesigen türkischen Konsulaten bezahlt und beaufsichtigt werden. Während ihres i. d. Regel auf etwa 5 Jahre begrenzten Aufenthalts lernen sie teilweise die deutsche Sprache und auch die spezifischen Lebensumstände ihrer Gemeindeglieder nur wenig kennen. Diese aus deutscher Sicht nicht unproblematische Verfahrensweise muss man allerdings aus der Anfangszeit verstehen, als der deutsche Staat einerseits eine Betreuung der Gastarbeiter wünschte, gleichzeitig aber von deren zeitnaher Rückkehr ausging. Hinzukommt, dass den deutschen Behörden auf türkischer Seite damals ein weltanschaulich neutraler Staat gegenüberstand, während heute eine Tendenz zur Re-Islamisierung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit der Türkei nicht zu übersehen ist. Die Frage ist also, inwieweit die hiesigen Gemeindeglieder diese Entwicklung mitvollziehen. Die junge Generation besteht z.B. darauf, dass jede Frau selbst bestimmen darf, ob sie ein Kopftuch tragen will. Sie sind stolz auf das, was sie sich in der neuen Heimat aufgebaut haben. Trotzdem spüren sie, wie sie gleichsam zwischen zwei Welten leben – vor allem wenn deutsche Mitbürger ihnen teilweise mit massiven Vorurteilen begegnen. Aber die Zeiten, als junge Männer von ihren Eltern mit Mädchen aus der Türkei verheiratet wurden, seien vorbei. Und in der Moschee in Hirsau sei von einer politischen Beeinflussung nichts zu spüren.
2. Die Bosniaken als Vorhut eines modernen Europas?
Während „Bosnien“ ein geographischer Begriff ist und mit „Bosniern“ alle gemeint sind, die in diesem Gebiet wohnen, sind die „Bosniaken“ eine besondere Gruppe, die sich u.a. durch ihre Religion von ihren Nachbarn unterscheidet: wie die östlich angrenzenden Serben der orthodoxen Kirche angehören bzw. die westlich und nördlich lebenden Kroaten katholischen Glaubens sind, waren auch die Bosniaken ursprünglich Christen in der Tradition der bulgarischen Bogomilen. Ihr Glaube galt ihren Nachbarn jedoch - weil von der orthodoxen bzw. katholischen Lehre abweichend - als irregeleitet. So waren sie von zwei Seiten beständigem politisch-religiösen Druck ausgesetzt. Als schließlich das Osmanische Reich im 15. Jahrhundert auf den westlichen Balkan vordrang und Bosnien seinem Herrschaftsbereicheinverleibte, traten die Bosniaken zum Islam über, der von da an ihre kulturelle Identität prägte. Trotzdem gilt: so wie die Identität der bosnischen Serben und Kroaten heute nicht allein vom Christentum bestimmt ist, verstehen sich die Bosniaken nicht allein als Moslems. Während der Ära des kommunistischen Jugoslawiens haben sie mühsam ihre ethnische Besonderheit verteidigt. Gleichzeitig ist für sie auch die lange und bis in die jüngste Vergangenheit teilweise leid-volle Geschichte des engen Neben- und Miteinanders der verschiedenen Kulturen in Bosnien von Bedeutung. In Sarajewo stehen die Moschee bzw. die orthodoxe und katholische Kirche sowie die Synagoge schon lange in Sichtweite. Man kannte und tolerierte sich trotz mancher Spannungen. Die Calwer Bosniaken möchten sich daher in gewisser Weise als Vorhut eines multikulturellen Europas sehen! Die meisten von ihnen stammen von den Gastarbeitern ab, die in den 60ger und 70ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Calw kamen. Die zweite Welle, die im Zuge des Jugoslawienkriegs ab 1992 folgte, ist inzwischen überwiegend in die Heimat zurückgekehrt oder nach Amerika weiter gewandert. Ihre Ankunft hier führte allerdings dazu, dass die Bosniaken sich unter dem Dach der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland e.V. (IGBD) zu einer Moschee-Gemeinde zusammenschlossen, die seit 1996 in Heumaden ansässig ist. Sie bekennen sich zum deutschen Grundgesetz und halten es für unangemessen, in einer nicht durchweg islamischen Gesellschaft die Scharia einführen zu wollen. Sie betonen, man müsse deutlich zwischen dem Islam und einer spezifischen Landeskultur unterscheiden. Ihre Frauen nehmen gleichberechtigt am gottesdienstlichen Gebet teil und bestimmen selbst, ob sie ein Kopftuch tragen wollen. Die etwa 90 Mitgliedsfamilien finanzieren ihr Gemeindeleben allein aus ihren Spenden. Der von ihnen angestellte Imam hat in Bosnien studiert und in Tübingen an der Universität einen Masterabschluss in Islamwissenschaft erreicht. Er spricht gut Deutsch und ist ein bereitwilliger Dialogpartner. Etwa 50% der Gemeindeglieder haben inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft.
3. Die Ahmadiyya - Gottes Wille für das Heute
Die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) ist eine islamische Erneuerungsbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts im heute pakistanischen Teil Indiens entstanden ist. Ihr Gründer, Mirza Ghulam Ahmad (1835 – 1908) hielt sich für den am Ende der Zeit erscheinenden Mahdi derMuslime, der zugleich der verheißene Messias der Juden, der wiedergekommene Jesus, ja eine Neuerscheinung Mohammeds sei. Unter seinen Nachfolgern entstand ein Streit, ob er nur eine Erneuerer des ursprünglichen Islams oder darüber hinaus ein neuer Prophet sei, der die geoffenbarte Wahrheit in die aktuelle Gegenwart übersetzt. Diese weitergehende Auffassung, die von der Mehrheit der Ahmadis bis heute vertreten wird, widerspricht der traditionellen Lehre des Islam, wonach es nach Mohammed keines weiteren Propheten mehr bedarf. So kam es zu immer neuen Anfeindungen der Ahmadiyya in der vom Fundamentalismus dominierten pakistanischen Öffentlichkeit. 1953 führte die zunächst individuelle Verfolgung Einzelner sogar zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. 1974 schließlich schloss die pakistanische Nationalversammlung die Mitglieder der Ahmadiyya aus der religiösen Gemeinschaft des Islams aus. Als Folge flohen viele Ahmadis aus ihrer Heimat. Sie gründeten eigene Gemeinden, z.B. in Kanada und Westeuropa, und baten so auch in Deutschland um Asyl. Die in Calw lebenden Ahmadis haben ihre geistliche Heimat in der Qamar-Moschee in Weil der Stadt gefunden, die ausschließlich von Landsleuten besucht wird. Der dort amtierende Imam ist in Deutschland ausgebildet worden. Er spricht gut Deutsch, predigt aber für seine Gemeinde in Urdu.
Wie alle anderen Moslems beruft sich die Ahmadiyya auf den Koran, die Sunna sowie die Hadithen als alleinige Quelle ihrer Spritualität. Aber sie wirft dem Mehrheitsislam vor, von dieser ursprünglichen „Rechtleitung“ im Laufe der Zeit immer mehr abgefallen zu sein, sodass der Islam heute in der Weltöffentlichkeit mit Unfrieden, Frauenfeindlichkeit und sogar Terror etc. identifiziert wird. Um zum wahren Islam zurück zu finden, bedurfte es des Mahdi, den Gott in der Person von Mirza Ghulam Ahmad geschickt habe. Er und seine Anhänger pochen dabei auf eine rationale Interpretation des Koran, welche mit der Vernunft in Einklang steht und deshalb den historischen Bezug des ewiggültigen Wortes Gottes sowohl zur Zeit Mohammeds als auch zur jeweiligen Gegenwart im Auge behält. Was sich ändern kann, ist der von den Interpreten in einer geschichtlichen Situation verstandene Sinn, nicht aber die ein für alle Mal geoffenbarte Wahrheit als solche.
Auf diesem Hintergrund betont die Ahmadiyya, dass Islam vor allem „Frieden“ meint und Frieden verwirklichen will. Das Ziel ist jedoch nicht ein Gottesstaat. Schon Mohammed habe in Medina die Trennung von Staat und Religion praktiziert. Die Ahmadis treten darum für die universellen Menschenrechte und den Schutz religiöser Minderheiten ein. Gewalt als Mittel zur Durchsetzung religiöser Zwecke lehnen sie ab. Es gäbe keinen islamischen Staat, sondern nur einen Staat, der im Sinne des Islam gerecht handelt und für Toleranz sorgt. Ähnlich räumen die Ahmadis durchaus ein, dass ihr Frauenbild vielleicht anders als das derzeit in der westlichen Welt vorherrschende sei. Frauen hätten im Islam andere, aber durchaus gleichwertige Rechte und Pflichten wie die Männer etc.
Die Ahmadiyya ist deutlich missionarisch ausgerichtet: Jeder Mensch soll die Botschaft des wahren Islam gehört haben und sich aus eigener Überzeugung für ihn entscheiden können. Ziel ist das friedliche Zusammen-leben in einer heute zunehmend multikulturellen Welt. Ahmadis sollen darum die Sprache ihres Gastlandes lernen, sich nach den dort gegebenen Gesetzen richten und die jeweilige Regierung respektieren. D.h. die Ahmadiyya unterscheidet zwischen säkularen Pflichten gegenüber der Gesellschaft und religiösen Pflichten gegenüber Gott. Die säkularen Aspekte können nur auf säkulare Art und Weise verwirklicht werden, indem Menschen - unabhängig von ihrer Religion - sich entscheiden, ihnen gerecht zu werden. Falls in einer Gesellschaft im engeren Sinn göttliche Gebote tangiert werden, gehört es zu den Pflichten der Gläubigen, dies im Rahmen der staatlichen Spielregeln anzufechten. Notfalls müssen sie in ein anderes Land weiterziehen. Da in Westeuropa die freie Ausübung der Religion garantiert ist, bestehe dazu aber kein Anlass. Ähnlich sei die Mehrzahl der in der Scharia gebotenen säkularen Pflichten gegenüber der Gesellschaft bereits im hier geltenden Grundgesetz verankert. Damit erübrige sich das explizite Einführen der Scharia durch muslimische Religionsgelehrte. Grundsätzlich gilt, dass jeder Einzelne über den Grad seiner Anpassung an die hiesige Lebensweise eigenverantwortlich zu entscheiden hat. Kein Dritter hat das Recht, darüber zu urteilen, denn in Fragen des Glaubens gibt es nur Freiwilligkeit! Mitglied der Ahmadiyya wird man, indem man nach eigener Prüfung ihre Grundsätze für sich übernimmt und daraufhin dem Kalifen unabänderliche Treue gelobt. Dieser weist politische Absichten von sich und will ausschließlich ein spiritueller Führer seiner Gefolgschaft sein.
4. Die Aleviten – ein anderer Islam?
Ein großer Teil der Türken, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Gastarbeiter nach Calw kamen, waren Aleviten (nicht zu verwechseln mit den Alaviten, die in Syrien leben). Wichtiger als die Besonderheiten ihrer religiösen Tradition war für sie damals aber das gemeinsame Schicksal, das sie mit ihren Landsleuten in der Fremde teilten: sie arbeiteten z.B. „beim Daimler“ und mussten sich mühsam in der neuen Umgebung zurecht finden. Viele mussten über Jahre ohne ihre Familien auskommen. Einige hatten ihre Familien bei sich. Sie blieben in Deutschland und verstanden sich als Teil der größeren türkischen Auslandsgemeinde.
Dies änderte sich grundlegend, als in der Türkei nach einem Putsch der Armee im Jahr 1980 auch die alevitische Bevölkerungsgruppe misstrauisch beobachtet wurde und zunehmend politisch unter Druck geriet. Höhepunkt dieser Entwicklung war 1993 das Massaker vonSivas, wo eine von konservativen sunnitischen Kreisen aufgewiegelte Menschenmenge ein Hotel anzündete, in dem - ohne dass Feuerwehr, Polizei und Armee eingriffen - 37 Teilnehmer eines alevitischen Festes verbrannten. Die Rekonstruktion des Ablaufs ist umstritten. Für die Aleviten, die sich vom türkischen Staat im Stich gelassen fühlten, war „Sivas“ jedoch der letzte entscheidende Anstoß zu einer Neueinschätzung ihrer politischen Lage bzw. zur Rückbesinnung auf ihre eigene religiöse Tradition. Diese unterscheidet sich vom Islam der sunnitischen Mehrheit in wesentlichen Punkten. Schon 1989 war darum in Köln als Interessenvertretung der hier lebenden Aleviten die „Alevitische Gemeinde Deutschland“ (AABF) entstanden. Die Calwer Aleviten fanden zunächst in Böblingen, dann in Nagold ihre geistliche Heimat. Seit 2010 versammeln sich etwa 30 Familien mit insgesamt ca. 70 Personen hier in Calw.
Die Gemeindeversammlung (Cem), an der Männer und Frauen sowie Kinder ab 12 Jahren gleichberechtigt teilnehmen, ist zentraler Ausdruck ihrer Spiritualität. Am Anfang steht die Frage, ob zwischen allen Anwesenden „Einvernehmen“ bestehe? Wenn nötig, werden Konflikte zwischen den Versammelten in einer offenen Aussprache bereinigt. Erst dann können die auf einem Saiteninstrument vorgetragene Musik, die Rezitation religiöser Gedichte und deren Auslegung und nicht zuletzt ein Gebetstanz (Semah) mit symbolischen Bewegungsabläufen und Gesten beginnen. Alles dies zusammen vergegenwärtigt die im Wesentlichen mündliche Tradition der Aleviten. Es gipfelt in einem ekstatischen Einswerden mit Gott.
Aleviten legen den Koran nicht wörtlich aus, sondern suchen die Bedeutung hinter der überlieferten Offenbarung. Für sie ist ein dogmatisches Religionsverständnis, das an einer gesetzlichen Oberfläche hängen bleibt, überholt: viele halten sich nicht an die „Fünf Säulen“ sowie die Sunna und Hadithen nur in einem allegorisch verstandenen Sinn. Außerhalb der Gottesdienste beten sie nicht zu festgelegten Zeiten in einer Moschee. Zentral ist für sie vielmehr die „Liebe zu Gott“ bzw. die mystische Vereinigung mit ihm.
Wie schon ihr Name „Aleviten“ (= Anhänger Alis) verrät, spielt der Kalif Ali, der „Freund Gottes“, für sie eine entscheidende Rolle. Er verkörpert ihre innige Gottesbeziehung. Sein Sohn Hussein, der bei Kerbala zusammen mit einem Rest von Getreuen ermordet wurde, ist ihnen ein lebendiges Beispiel für das den Aleviten (und allen Menschen!) immer wieder zugefügte Unrecht – gleichzeitig aber auch Ermahnung, es genauso standhaft zu ertragen. Sie sehen es daher als ihre Aufgabe, immer wieder auf soziale Misstände hinzuweisen und für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft einzutreten.
Die Aleviten beachten die Lehre der Imame. Gleichwohl ist für sie jeder einzelne Mensch in seinem Tun für sich selbst verantwortlich. Dazu soll er sich an den „Vier Toren“ orientieren: Das erste Tor ist die Annahme der Gesetze und Pflichten der jeweiligen Gemeinschaft, in der man lebt. Das zweite Tor ist die Kenntnis der individuellen Rechte und Ansprüche, die man selber hat und stellt. Sie wird von der Frage geleitet: „Was steht mir zu?“ Das dritte Tor ist die Erkenntnis des Nächsten. Sie ist mit der Frage verbunden: „Was begehrt der Mitmensch, was gehört dem Mitmenschen?“ Das Erreichen des vierten Tores setzt die Beschäftigung mit den Rechten und Pflichten der Gemeinschaft voraus. Ab diesem Tor hat das jeweilige Individuum das Recht und die Möglichkeit, die Pflichten und Rechte der Gemeinschaft mitzugestalten.
Für die Aleviten ist es nicht schwer, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Sie treiben prinzipiell keine Mission, sondern gehen davon aus, dass jede Religion auf die Anbetung Gottes abzielt. Unter der Scharia verstehen sie nicht ein von islamischen Religionsgelehrten entwickeltes spezifisches Gesetz, sondern die Lebensordnung ihres Gastlandes, die sie respektieren. Ihre Ethik ist situationsbezogen und am Einvernehmen mit dem Mitmenschen orientiert. Sie ist damit offen für eine zeitgemäße Lebensform. Ihre Freiheit im Umgang mit der islamischen Tradition, die aus einer tiefen mystischen Gottesbeziehung erwächst, hat allerdings immer wieder zu Vorbehalten und Anfeindungen konservativer Kreise geführt und islamische Gelehrte urteilen lassen, dass die Aleviten letztlich nicht Teil der Umma seien. Die in der Bundesrepublik gewährleistete Religionsfreiheit erlaubt den Aleviten aber nach Jahrhunderten der Ausgrenzung erstmals, sich neu auf ihre eigene Tradition zu besinnen und diese selbstbewusst zu vertreten.
Wie repräsentativ sind diese Beispiele?
Die aktuell neu nach Calw gekommenen muslimischen Flüchtlinge sprechen überwiegend Arabisch und bringen auch sonst einen ethnisch-kulturellen Hintergrund mit, der sie von den Moslems unterscheidet, die hier schon in der dritten und vierten Generation leben. In den in Calw entstandenen Moscheen werden sie darum kaum auf Dauer Anschluss finden. Im Augenblick ist auch nicht abzusehen, ob sie eine eigene Gebetsgemeinschaft oder Moscheegemeinde gründen werden oder ob sie bei erster Gelegenheit zu Verwandten bzw. in Orte ziehen, wo sie unter Arabisch sprechenden Landsleuten leben können?
Vieles deutet jedenfalls darauf hin, dass ein großer Teil der insgesamt in Calw lebenden Moslems entweder am Leben weiterer, d.h. auswärtiger Moscheen (z.B. in Böblingen bzw. im Raum Nagold) teilnehmen oder aber inzwischen ein eher distanzierteres Verhältnis zu ihrer religiösen Tradition praktizieren. Sie würden sich damit dem Trend anpassen, der auch einen großen Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft bestimmt. Die oft beschworene Sorge, sie könnten die Lebensweise der angestammten deutschen Bevölkerung überfremden, verlöre damit ein Stück weit ihre Dringlichkeit.
Auch hinsichtlich der Angst vor dem sog. „politischen Islam“ ist genau zu unterscheiden: wahrscheinlich ist es realistisch davon auszugehen, dass die hier lebenden Moslems vorzugsweise muttersprachlichen Medien folgen. Sie übernehmen damit u.U. eine in ihrem Heimatland vertretene politische Linie, die aus deutscher Sicht zu hinterfragen wäre. Auf diese Weise kann z.B. die türkische Diaspora in Deutschland in innertürkische Konflikte verwickelt bzw. im Extremfall sogar als außenpolitischer Hebel der türkischen Regierung missbraucht werden. Diese Einflussnahme geschieht jedoch im Rahmen der allen Bürgern zustehenden Meinungsfreiheit und führt als solche noch nicht zu Gewalttätigkeiten. Etwas ganz anderes ist es, wenn im Umfeld bestimmter Moscheen z.B. Hassprediger zum Jihad gegen die Ungläubigen aufrufen und junge Männer für den bewaffneten Kampf in den Reihen des IS bzw. zu Terrorakten in Deutschland rekrutiert werden. Davon konnte in Calw bisher keine Rede sein! Deshalb sollten unsere islamischen Mitbürger auch nicht für etwas in Mithaftung genommen werden, was an anderer Stelle geschehen ist und dort zu Recht von den Strafverfolgungsbehörden bzw. der Justiz bekämpft wird.
Die deutschen Spätaussiedler:
Von den Heimatvertriebenen, die im unmittelbaren Zusammenhang des Kriegsendes in die Bundesrepublik kamen (s.o.), unterscheidet sich die Gruppe der „Spätaussiedler“, die im Wesentlichen erst seit 1988 aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten in den Westen ausreisen durften. Bei ihnen handelt es sich um sog. „Volksdeutsche“, deren Vorfahren seit 1764 besonders von Katharina der Großen (1762-1796), aber auch ihren Nachfolgern zum Siedeln in Russland eingeladen worden waren. Sie hatten zunächst im Gebiet der Wolga, später auch entlang der polnischen Grenze, am Schwarzen Meer sowie im Kaukasus blühende Kolonien aufgebaut, in denen sie dank eigener Kirchengemeinden und Schulen ihr Deutschtum ungestört pflegen konnten.
Dies änderte sich schlagartig, als Zar Alexander II (1853-1856) die ursprünglich „auf ewig gewährten“ Privilegien der Siedler aufhob und Alexander III (1881-1894) in ihren Schulen den Gebrauch der deutschen Sprache verbot. Schon während des 1.Weltkriegs und dann noch mehr infolge der Oktoberrevolution (1917), der Vernichtung des Bauernstandes (1928-1932) und den stalinistischen Säuberungen (1937-1938) wurden - so wie andere ethnische Minderheiten - auch die Deutschen von ihrem Land vertrieben und brutal terrorisiert. Als Hitler 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die arbeitsfähigen Männer und Frauen der Volksdeutschen in weit abgelegene Arbeitslager z.B. in Kasachstan, in Kirgisien oder Sibirien deportiert und dort wie Gefangene behandelt. Viele von ihnen kamen in den Arbeitslagern um. Ihre Familien wurden auseinander gerissen. Ihre Situation verbesserte sich erstmals 1955 und dann besonders unter Gorbatschow.
Von den insgesamt ca. 2 Millionen Russlanddeutschen, die seitdem in die Bundesrepublik auswanderten, erinnerte sich eine Gruppe daran, dass sie einst die Donau abwärts in den Osten gewandert waren. Sie zog es zurück nach Württemberg, der Heimat ihrer Vorfahren. Viele Familien kamen auch in den Kreis Calw. Ihr Neuanfang gestaltete sich durchaus mühsam, da ihre in Russland erworbenen Qualifikationen hier oft nicht anerkannt wurden. Sie übernahmen schlechter bezahlte Tätigkeiten, haben sich inzwischen aber neue Existenzen geschaffen. Sie wohnen verstreut in unterschiedlichen Orten. Doch sie halten – wie einst in der Fremde – engen Kontakt in eigenen Kirchengemeinden, die sie neu gründeten. Diese sind freikirchlich organisiert und achten auf eine bibeltreue Auslegung. Dem eher liberalen Lebensstil der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber haben sie teilweise Vorbehalte. Sie schätzen die soziale Sicherheit der Bundesrepublik, aber sie erinnern sich gleichzeitig an die Weite z.B. Kasachstans und das dort so viel unkompliziertere Leben. Sie empfangen das deutsche Fernsehen und gleichzeitig auch das russische, und so fragen sie sich oft, ob unsere Medien verstehen, was heute in der Ukraine oder allgemein in Russland geschieht? Mit ihren Meinungen halten sie sich jedoch zurück.
Die ca. ? Russlanddeutschen in Heumaden leben vor allem in ihren Familien-Netzwerken. Sie besuchen meist die eigenen Gottesdienste (z.B. in Hirsau oder in Calw in der Stuttgarter Straße). Sie sind dankbar dafür, dass sie hier sein können. Doch besonders die Älteren können die „Heimat“, in der sie aufgewachsen sind, nicht vergessen.
Vom Nebeneinander zum Miteinander
In Heumaden leben zurzeit noch viele Ältere, die vor Jahren aus der engen Kernstadt in den neu entstandenen Stadtteil auf der Höhe gezogen sind. Viele waren Deutsche. Im Ganzen entsprachen die neuen Mitbürger aber mehr und mehr der Zusammensetzung der Bevölkerung Calws nach der Ankunft der sog. „Gastarbeiter“. Ein Blick auf die Zahlen der Heumadenschule zeigt, wie sich die Entwicklung fortsetzen wird. Ca.55 % der Kinder haben heute zumindest einen Elternteil mit Migrationshintergrund. Die meisten Eltern stammen aus Italien, der Türkei, Portugal, dem ehemaligen Jugoslawien und Weißrussland. Dabei sind nur ca. 25 % dieser Eltern selbst eingewandert. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist schon selbst in Deutschland aufgewachsen. Viele von ihnen haben die deutsche bzw. eine doppelte Staatsangehörigkeit – ihre hier geborenen Kinder (ca. 15%) sind ohnehin Deutsche. In vielen Migrantenfamilien wird allerdings nicht Deutsch, sondern die ursprüngliche Muttersprache gesprochen.
Das Nebeneinander der unterschiedlichen Prägungen wird noch unübersichtlicher, wenn man die Religionsstatistik der Heumadenschule betrachtet: die größte Gruppe sind heute die Katholiken (ca.30 %). Es folgen die Moslems (ca. 27% ohne Aleviten), die Evangelischen (ca. 20 %) und verschiedene kleine meist christliche Gruppen (ca. 9%) sowie ca.14% ohne Religionszugehörigkeit. Für den Religionsunterricht bedeutet dies, dass je ca. 30% am katholischen bzw. evangelischen RU teilnehmen und 40 % der Schüler entweder eine „AG Werteerziehung“ (Kl.1-7) oder das reguläre Fach Ethik (Kl.8-10) besuchen.
Viele unterstützende Institutionen und inoffizielle Helfer
Angesichts der Vielfalt der Prägungen und Traditionen, die in Heumaden aufeinander treffen, könnte man ein heilloses Durcheinander und ernste Reibereien unter den so Verschiedenen vermuten. Dem ist aber keineswegs so! Zum Teil vom Krippenalter an (1.-3. Lebensjahr), auf jeden Fall aber ab dem Kindergarten sind die kleinen Heumadener das Miteinander gewohnt. Sie lernen zusammen zu spielen und nebenher zugleich die Regeln des Zusammenlebens. Freundschaften entstehen und bleiben oft über die ganze Schulzeit erhalten. Wo die Erzieherinnen Sprachdefizite beobachten, bieten sie besondere Trainingsprogramme an: z.B. zusammen mit einer Musikpädagogin „Singen – Bewegen – Sprechen“ (SBS) oder als andere Variante den Kurs „Intensive Sprachförderung im Kindergarten“ (ISK). Trotz häufig ernster Verständigungsschwierigkeiten sind die Erzieherinnen auf dieser Stufe wichtige Ansprechpartner auch der Mütter. Sie unterstützen sie beim Behördenverkehr oder hinsichtlich Arztbesuchen ihrer Kinder etc. Nicht zu unterschätzen sind ferner die im Umfeld des Kindergartens entstehenden Netzwerke. Die Mütter besuchen z.B. gemeinsam mit ihren Kindern den Spielplatz und tauschen sich dort aus. Ab der Einschulung übernehmen dann die Grundschullehrer die Begleitrolle. Sie suchen z.B. Kontakt mit dem Hort (Kl. 1-4), wenn sie Unterstützungsbedarf für einzelne Schüler beobachten. In Kl.1-4 beteiligen sich alle Schüler am Programm „Faustlos“, das die Kinder anleiten will, Problem auf friedlichem Wege zu lösen. In Kl. 7 werden Schüler zu „Streitschlichtern“ ausgebildet. Auch die Schulsozialarbeiterin steht für Einzel- und Gruppengespräche zur Verfügung und hilft beim Bearbeiten von Konflikten. An mehreren Nachmittagen der Woche bietet sie für Interessierte ein Freizeitprogramm an. Die Schulseelsorge ist kurzfristig erreichbar und begleitet die Schüler in ihren persönlichen Schwierigkeiten.
Nachzügler und Flüchtlinge
Nur zwei kleine Gruppen werden von diesem breiten und durchaus erfolgreichen Angebot zur Integration der Heumadener Kinder und Jugendlichen nur bedingt erreicht: Einerseits Neuankömmlinge, die im Rahmen der EU-Freizügigkeit von Arbeitnehmern praktisch an jedem Tag gleichsam „unangemeldet“ nach Heumaden gelangen und nachträglich in das hiesige Schulsystem integriert werden müssen. Sie sprechen in der Regel kein Deutsch, und die Verständigung mit ihnen ist besonders am Anfang oft sehr schwer. Für sie wird darum zunächst in kleinen Gruppen ein Zusatzunterricht Deutsch angeboten. Später nehmen sie schrittweise am Unterricht der Klassen teil, die ihrem Alter entsprechen. Je nach ihren Vorkenntnissen gelingt das mehr oder auch weniger.
Eine ganz andere, in Heumaden bisher sehr kleine Gruppe sind anerkannte Flüchtlinge, die 2015 /2016 nach Deutschland kamen, hier um Asyl gebeten und inzwischen einen festen Aufenthaltsstatus erreicht haben. Sie dürfen die unmittelbare kommunale Obhut verlassen und sich im Einvernehmen mit dem Jobcenter des Landkreis Calw in Nagold (bzw. seiner Außenstelle in Calw) eine eigene Wohnung suchen. Sie erhalten nicht mehr Hilfen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern Hartz IV und werden von Integrationsfachkräften des Jobcenters bei der Integration in den deutschen Arbeitsmarkt unterstützt. Dazu gehört zunächst das Erlernen der deutschen Sprache (mindestens Niveau B1) bzw. die Teilnahme an einem Integrationskurs. Ferner unterschiedliche Angebote zur Aufnahme von Arbeit. Dies können Gelegenheitsjobs, z.B. Tätigkeiten bei der Erlacher Höhe, aber auch mindestens sechswöchige Praktika in Firmen sein etc. Sofern sie geeignete Qualifikationen mitbringen, erreichen sie relativ schnell ein reguläres sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Doch auch damit stehen sie erst am Anfang ihres weiten Wegs zur vollen Integration in die deutsche Gesellschaft. Sie brauchen weiterhin Menschen, die ihnen beim Ankommen in einer fremden Kultur helfen. Der privaten Aufmerksamkeit und Initiative der deutschen Bevölkerung bleibt viel Gelegenheit, um z.B. als persönliche „Paten“ aktiv zu werden!
Eine vorläufige Bilanz
Fragt man eine Erzieherin im Kindergarten, worauf es ihr bei der Integration eines Kindes mit Migrationshintergrund ankommt, wird sie wahrscheinlich eine ungestört altersgerechte Entwicklung, den Erwerb der deutschen Sprache und als Folge von beidem ein gruppen-gerechtes Sozialverhalten nennen. Ein Hauptschullehrer wird ähnliches erwarten - jedoch bezogen auf die Bildungsanforderungen der Klasse und das Rollenverhalten eines deutschen Teenagers, der einschätzen kann, wo seinem Freiheitsdrang Grenzen gesetzt sind. Die Integrationsfachkraft im Jobcenter denkt verständlicherweise vor allem an die für eine Ausbildung bzw. spätere Anstellung unerlässlichen Grundqualifikationen. Ein Arbeitgeber fragt sich, ob der sich Bewerbende ein verlässlicher Mitarbeiter sein wird, der pünktlich zur Arbeit kommt und die ihm zugewiesenen Aufgaben pflichtbewusst und effektiv erledigt? Ganz offensichtlich ist „Integration“ also ein eher langer Weg. Neu ankommende Nachzügler sowie Flüchtlinge müssen dabei in sehr knapper Frist etwas leisten, was die Mehrheit der Heumadener Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund inzwischen Schritt für Schritt und zudem unterstützt von vielfältigen Hilfestellungen lernen bzw. üben können. Und dabei bedeutet selbst die endlich erreichte Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsprozess bzw. ihr Ziel, nicht mehr auf Hartz IV angewiesen zu sein, eine zwar sehr wichtige Stufe, aber gleichwohl eine verkürzte Betrachtungsweise! Aus der Sicht von Heumaden-aktiv ließe sich ja von einem bestimmten Zeitpunkt an sehr wohl überlegen, was alle diese neuen Mitbürger nun ihrerseits zum Zusammenleben in unserem Stadtteil beitragen?
Wer so fragt, sollte allerdings das ganze Bild im Auge haben! Nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch deutsche haben zum Teil erhebliche Sprachdefizite bis hin zu regelrechter Sprechangst. Sie kommen oft aus bildungsfernen Familien, in denen den Kindern nicht vorgelesen und überhaupt wenig mit ihnen geredet wird. An die Stelle persönlicher Zuwendung tritt weithin ein überzogener Medienkonsum. Auch die familiären Erziehungsstile unterscheiden sich zum Teil sehr: Osteuropäische Zuwanderer neigen eher zu körperlicher Gewalt als Erziehungsmittel und machen gelegentlich sogar das Eingreifen des Jugendamtes erforderlich. In türkischen Familien genießt der Sohn meist eine Sonderrolle. Ab einem gewissen Alter überflügelt er rangmäßig sogar die Mutter. Er stellt daher gern auch die Autorität der Erzieherin in Frage und wehrt sich gelegentlich mit Händen und Füßen gegen deren Anweisungen. Gleichwohl haben „Ausländerkinder“ in der Regel mehr Respekt vor Älteren. Sie gelten als ruhiger und angepasster und auch eher trocken als deutsche. Diese haben oft Mütter, die selbst unsicher sind, wie weit sie dem Eigenwillen ihrer Kinder nachgeben sollen bzw. welche Regeln sie durchsetzen wollen. Sie fordern auch gern besondere Bildungsmaßnahmen ein, während die Mütter ausländischer Kinder in aller Regel die pädagogische Förderung ihrer Kinder im Kindergarten und die vielseitige Unterstützung, die sie selbst erfahren, zu schätzen wissen und dafür sehr dankbar sind. Integration ist also bei genauerem Hinsehen keine Einbahnstraße, auf der sich einseitig die Neuzugezogenen an die Alteingesessenen anpassen müssen! Sie ist eher eine alle Kinder und deren Eltern einbeziehende Suche nach einer zeitgemäßen Weise des Zusammenlebens. Sie stellt an die Erzieherinnen und Lehrer hohe Anforderungen! In Wahrheit muss auf Dauer wohl gefragt werden, welchen Gewinn beide Seiten - die Migranten und die Deutschen - haben werden, wenn sie sich gegenseitig für einander öffnen? Eine solche Betrachtung setzt allerdings voraus, dass die neuen Mitbürger schon hinreichend gut Deutsch sprechen, sodass ein Dialog auf Augenhöhe entstehen kann. Schon heute erleben zahlreiche deutsche Freiwillige, dass die oft sehr anstrengende Begleitung der zunächst Fremden sie bereichert und ihren Horizont maßgeblich erweitert.
In einem Punkt dürfte aber allgemeine Einigkeit bestehen: Fragt man die unterschiedlichen Bezugspersonen der Migranten auf der jeweiligen Stufe, welche Prognose hinsichtlich des weiteren Integrations-Erfolgs sie der Gruppe, die sie aktuell betreuen, insgesamt geben, so lautet die Antwort regelmäßig, das ließe sich im Voraus kaum abschätzen. Denn das hänge in starken Maße von individuellen Voraussetzung ab. Bei den Jüngeren von ihren Familien und wie diese das Lernen ihrer Kinder unterstützen. Bei Erwachsenen von den mitgebrachten Qualifikationen und dem anhaltendem(!) Bemühen, sich in der neuen Umwelt zurecht zu finden und Erfolg zu haben.
Das Fest der Kulturen
Ein wichtiges Motiv bei der Gründung von Heumaden-aktiv war von Anfang an: „Das Miteinander der Generationen, der Nationalitäten und Religionen, d.h. der Alteingesessenen und Neuzugezogenen.“ Schon zu Beginn ging es um die Frage: „Wie gelingt es, nicht nur nebeneinander her zu leben, sondern sich gegenseitig bewusster wahr zu nehmen und das Leben im Stadtteil mehr und mehr als ein gemeinsames zu gestalten?“ Deshalb haben wir schon damals ein „Fest der Nationen“ ins Auge gefasst, das am 20. Mai 2017 zum ersten Mal gefeiert wurde und wenn möglich zu einer festen Einrichtung in unserem Stadtteil wird.
Auf diesen Schritt haben wir uns langfristig vorbereitet: Wir haben uns mit der Geschichte unseres Stadtteils beschäftigt und gründlich recherchiert, welche Gruppen sukzessive in Heumaden ein neues Zuhause gefunden haben. Wir kennen heute in allen Gruppen wichtige Ansprechpartner und haben bereits bei unterschiedlichen Veranstaltungen mit ihnen zusammen gearbeitet. So nutzten wir auch die Vorbereitungen zu unserem „Fest der Kulturen“, um nicht nur gemeinsam zu planen, sondern zugleich eine funktionierende Aktionsgemeinschaft entstehen zu lassen, die sich nach Möglichkeit auch bei künftigen Anlässen bewähren wird.
Das Interesse, auf das wir mit unserem Vorhaben bisher gestoßen sind, bestärkt uns in der Annahme, dass wir miteinander auf einem richtigen Weg sind!